Sie hat sich entschieden, in der Ukraine zu bleiben, trotz des russischen Angriffskriegs. Als Künstlerin und Feministin ist sie umstellt von kolonialistischen und sexistischen Klischees. Da hilft nur Humor.
![Cover of comic Cover of comic: About women, men and cats in Ukraine 1871 - 2023](/sites/default/files/styles/3d2_small/public/2023-12/0.jpg.webp.jpg?itok=rueG6jA4)
![Page 1 of comic: Rosa, Lesya, Olha Page 1 of comic: Rosa, Lesya, Olha](/sites/default/files/styles/3d2_small/public/2023-12/1b.jpg.jpg?itok=LyYJByX9)
Oksana Semenik
Kunsthistorikerin, Wissenschaftlerin und Autorin des Accounts „Ukrainian Art History“ bei Twitter (jetzt X)
Lesya Ukrainka (1871–1913) verfasste ukrainische feministische Literatur und Schriften zur Dekolonialisierung. Ihre Freundin und Kollegin Olha Kobylianska (1863–1942) gehörte zu den Pionierinnen psychologischer Prosa und trat mit ihren Werken für die Ideen der Emanzipation und des Feminismus ein. Sie waren Zeitgenossinnen von Virginia Woolf und orientierten sich an westeuropäischen Geistesströmungen. Ukrainka und Kobylianska schrieben einander Briefe und trafen sich persönlich. Sie hatten offenbar eine sehr enge Beziehung. Wichtig ist, dass beide zwar Ukrainerinnen waren, aber in verschiedenen Reichen lebten – Ukrainka im Russischen Reich und Kobylianska im Kaiserreich Österreich-Ungarn. In ihren Briefen schrieben sie einander „irgendwer liebt irgendwen“, und die ukrainische Gesellschaft kann sich heute noch immer nicht darauf einigen, ob dies auf eine queere Beziehung hindeuten könnte. Doch um die berühmte Feministin Rosa Luxemburg zu zitieren, deren Worte in dieser Zeichnung zu lesen sind: „…da die Ukraine niemals eine Nation oder einen Staat gebildet hatte, [war sie] ohne irgendeine nationale Kultur, außer den reaktionärromantischen Gedichten Schewtschenkos.“ In ihren Augen existierten diese beiden großen Ukrainerinnen mit ihrer Literatur, ihrer Sprache und ihrem Feminismus offenbar gar nicht.
![Page 2 of comic: Picasso and Chagall Page 2 of comic: Picasso and Chagall](/sites/default/files/styles/3d2_small/public/2023-12/2b.jpg.jpg?itok=-V5Pz1a_)
Oksana Semenik
Kunsthistorikerin, Forscherin und Autorin des Twitter- (jetzt X) Accounts „Ukrainian Art History“
Es geht die Legende, dass Pablo Picasso und Marc Chagall in Paris Werke der beiden ukrainischen Vertreterinnen der bäuerlichen Kunst, Maria Prymachenko (1909–1997) und Kateryna Bilokur (1900–1961), gesehen haben. Offenbar hätten sie bei deren Anblick gesagt, die beiden Künstlerinnen seien Genies und verdienten für ihre Werke weltweite Berühmtheit. Wir wissen nicht, ob das wirklich stimmt, aber Kunsthistoriker*innen, Journalist*innen und andere erzählen die Geschichte gern bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Warum benötigt die ukrainische Gesellschaft noch immer eine Legitimierung durch Männer aus dem Westen? Vielleicht weil es in der Kunstwelt noch immer Hierarchien gibt – Männer gegen Frauen, westeuropäische Kunst gegen ukrainische Kunst, professionelle gegen autodidaktische Kunstschaffende. Verlieren Prymachenkos konzeptuelle Werke und Bilokurs magische Blumen an Wert, wenn diese Geschichte nicht erzählt wird? Prymachenko war unglaublich kühn und einfallsreich: in den Titeln ihrer Bilder von Blumen und Tieren versteckte sie politische Botschaften. Und Bilokur, die in einer patriarchalen Dorfgemeinschaft lebte, erhielt erst nach einem misslungenen Selbstmordversuch die Erlaubnis zum Malen. Diese Frauen hatten die Anerkennung von Picasso oder Chagall gar nicht nötig – sie verfügten über genügend Selbstachtung.
![Page 3 of comic: #me too Page 3 of comic: #me too](/sites/default/files/styles/3d2_small/public/2023-12/3b.jpg.jpg?itok=5yE8xegJ)
Galyna Kotliuk
Soziologin und Wissenschaftlerin im Bereich Geschlechterbeziehungen
Weltweit steht #MeToo für den Kampf gegen eine Kultur des Sexismus, der sexuellen Belästigung und der Vergewaltigung. Im Jahr 2017 war #MeToo eine Reaktion auf zahlreiche Vorwürfe wegen sexueller Belästigung gegen den berühmten Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein. Innerhalb kurzer Zeit wurde daraus eine globale und einflussreiche Bewegung von Frauen, die für ihre Rechte kämpfen. Doch nur wenige wissen, dass Frauen in der Ukraine der #MeToo-Bewegung ein Jahr voraus waren: Im Jahr 2016 startete die Sozialaktivistin, Feministin und Leiterin der Menschenrechts-NRO Studena eine landesweite Social-Media-Kampagne, um auf das Problem der sexuellen Gewalt gegen Frauen in der Ukraine aufmerksam zu machen. Auch diese Bewegung verdankte ihren Namen einem Hashtag – #янебоюсьсказати, was übersetzt #IamNotAfraidtoTell (ich habe keine Angst, es zu sagen) bedeutet –, mit dem Frauen im Land ihre Geschichten teilten. Die #IamNotAfraidtoTell- und #MeToo-Bewegungen kamen zwar fast gleichzeitig in unterschiedlichen Teilen der Welt auf, doch sie waren eine Reaktion auf Probleme, die alle Frauen betreffen.
#IamNotAfraidtoTell zeigt, dass Feminismus in der Ukraine kein Fremdwort ist. Er ist Teil unseres Lebens, unsere Antwort auf Gewalt, die Frauen jeden Tag erleben. Auch ich habe keine Angst, darüber zu sprechen.
![Page 4 of comic: I am not afraid Page 4 of comic: I am not afraid](/sites/default/files/styles/3d2_small/public/2023-12/4b.jpg.jpg?itok=IRa-_Bol)
Olga Diachuk
Kommunikationsexpertin und ehemalige Koordinatorin der HeForShe-Bewegung in der Ukraine
Männer und Frauen in der Ukraine haben nicht nur eine gute Online-Streitkultur. Sie sind auch gut im gemeinsamen Protest und im Schmieden solidarischer Bündnisse. Die Revolution der Würde nimmt einen wichtigen Platz in der Geschichte des ukrainischen Widerstands ein, weil sie uns endlich als Nation etabliert hat, die ihre Rechte zu verteidigen weiß. Als besonders wichtiges Ergebnis der Post-Maidan-Phase hat sich die Diskussion über Menschenrechte zu einem zentralen Bestandteil des öffentlichen Diskurses entwickelt, ob nun bei der Verabschiedung neuer Gesetze oder bei Diskussionen in unterschiedlichen Medien. Am Vorabend des 8. März 2018 starteten die Medienexpertinnen Iryna Zemlianova und Yelyzaveta Kuzmenko die Kampagne „Ich bin nicht dein Schätzchen“ als Reaktion auf eine sexistische Bemerkung des ukrainischen Präsidenten. In seiner Antwort auf eine Frage der Journalistin Maryna Baranivska bezeichnet der Staatschef diese völlig unangemessen als „Schätzchen“. Die Kampagne wurde nicht nur von Frauen in den Medien, sondern auch von anderen Ukrainerinnen unterstützt, die übergriffige Kommentare, paternalistisches Verhalten und andere Formen der geschlechtsspezifischen Diskriminierung in ihrem Berufsalltag erlebt hatten. Ich erinnere mich gut, welche Wirkung diese Medienkampagne auf mich hatte: Damals war ich 25 und Redaktionsleiterin in einem Medienunternehmen. Ich war also oft in Sitzungen mit Geschäftspartnern, von denen sich einige einen Kommentar über mein Alter nicht verkneifen konnten. Die Kampagne „Ich bin nicht dein Schätzchen“ war so wichtig, weil es eines der ersten Male war, dass ukrainische Frauen aufgestanden sind und dem Staatschef Sexismus vorgeworfen haben. Und dabei ging es nicht nur um Mut, sondern auch um ein Maß an Demokratie und ein Bewusstsein für die eigenen Rechte. Die Kampagne hat sich zweifellos in der Sprache von Personen des öffentlichen Lebens bemerkbar gemacht – zum Beispiel bei Politiker*innen, die seither ihre Worte mit mehr Bedacht wählen. Die Presse hat Fälle von Sexismus genauer beobachtet und darüber berichtet. Seit 2019 verleihen zivilgesellschaftliche Organisationen die Anti-Auszeichnung „It’s an Egg!“ (Es ist ein Ei) für stereotype und sexistische Darstellungen von Frauen in den ukrainischen Medien.
![Page 5 of comic: Is it feminist for women to join the military operation? Page 5 of comic: Is it feminist for women to join the military operation?](/sites/default/files/styles/3d2_small/public/2023-12/5b.jpg.jpg?itok=DtznsSrd)
Sofia Cheliak
Journalistin, Kulturmanagerin und Programmleiterin des Lviv BookForum
Manchmal kommt man einer Person nahe – man teilt Alltagsprobleme miteinander, diskutiert über die großen und kleinen Dinge des Lebens, berät sich in Kleidungsfragen – und dann wird diese Person zu einem wichtigen Teil des eigenen Lebens und man behandelt sie manchmal sogar wie eine Schwester oder einen Bruder. Doch in einer solchen Freundschaft gibt es vielleicht Momente, in denen sich die Bedeutung dieser besonderen Person noch einmal von einer ganz anderen Seite zeigt. Dies war der Fall auf einem Festival in Kolumbien. Ich war dort für den ukrainischen Programmteil zuständig und konnte an allen Veranstaltungen teilnehmen. Bei einem Panel sprach Victoria Amelina (Vika) vor Teilnehmerinnen aus aller Welt über Aktivismus. Die Moderatorin fragte, ob es ein feministischer Akt sei, im Krieg zu kämpfen. Vika antwortete, da es sich um einen Verteidigungskrieg handele und es ein typisch weiblicher Reflex sei, die eigenen Kinder, das Zuhause und die Liebsten zu verteidigen, sei unsere Beteiligung am Krieg ein ausgesprochen feministischer Akt. Damals sah ich Vika noch einmal in einem völlig neuen Licht – ich war so stolz auf meine Freundin.
![Page 6 of comic: Doesn't it embarrass you that a nurse receives a military award? Page 6 of comic: Doesn't it embarrass you that a nurse receives a military award?](/sites/default/files/styles/3d2_small/public/2023-12/6b.jpg.jpg?itok=yhahAR6x)
Zu den Errungenschaften von Veteraninnen gehörte 2018 die Verabschiedung eines neuen ukrainischen Gesetzes, das Frauen den Zugang zur Armee gewährte. Vorher konnten Frauen nur als Köchin, Schneiderin, Toilettenfrau oder im besten Fall als Krankenschwester arbeiten. Die Scharfschützin Yulia Matvienko (Spitzname „Eichhörnchen“) war als Krankenschwester registriert. Als ihr Viktor Muzhenko, Oberkommandierender der ukrainischen Streitkräfte – dem höchstem militärischem Rang des Landes nach dem Obersten Befehlshaber – im Frühjahr 2016 den Orden für den Mut verlieh, fragte sie bei der Vergabezeremonie mit einem Augenzwinkern: „Ist es ihm nicht unangenehm, dass eine Krankenschwester eine militärische Auszeichnung erhält?“ In einem Interview am 25. März 2020 im Rahmen der Povaha-Kampagne (Respekt) gegen Sexismus in Medien und Politik fügte Yulia hinzu: „Frauen haben sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg gekämpft, und sie haben als Pilotinnen und Scharfschützinnen gute Arbeit geleistet. Im Kriegsfall stehen Frauen auf und kämpfen, und sie machen es genauso gut wie Männer. Aber wenn der Krieg vorüber ist, sagen alle: ‚Nein, das ist keine Frauensache, Frauen haben nicht gekämpft.‘“
![Page 7 of comic: I am ready Page 7 of comic: I am ready](/sites/default/files/styles/3d2_small/public/2023-12/7b.jpg.jpg?itok=tucdp6Cu)
Lesia Hanzha
Offizierin der Streitkräfte und ehemalige Journalistin
Verteidigungskapazitäten sind nicht nur eine Frage von Raketen und Panzern. Es geht dabei auch um den richtigen Umgang mit der wertvollsten Ressource – den Menschen. Die ukrainische Armee setzt zurzeit nur auf Männer. Sie weiß nicht, was sie mit Frauen anfangen soll, die kämpfen wollen. Und sie hat keinerlei Vorstellung davon, welche Aufgaben sie Frauen übertragen kann, um diese wirksam auf dem Schlachtfeld einzusetzen. Doch da es inzwischen an militärischem Personal mangelt, muss die ukrainische Armee lernen, wie sie Frauen effektiv einsetzen kann. Dies ist nicht mehr nur eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit. Vielmehr geht es darum, den Krieg zu gewinnen oder zu verlieren. Mit anderen Worten: Es ist eine Frage von Leben und Tod. In allen Bereichen des Militärs gibt es Probleme, beispielsweise bei der Bereitstellung von Kleidung. Die ukrainische Armee bietet erst seit August 2023 Felduniformen speziell für Frauen an und arbeitet noch an der Versorgung mit schusssicheren Westen. Dafür brauchte es allerdings erst den Einsatz von Freiwilligen der Nonprofit-Organisation ArmWomenNow, die etwa 5.000 Uniformen für Frauen genäht haben. Im Anschluss gründete sich eine Arbeitsgruppe mit Mitgliedern aus dem Verteidigungsministerium und der öffentlichen Initiative Forma Two, um dieses Problem zu lösen. Vorher passten Frauen ihre Uniformen durch Umnähen und mit Sicherheitsnadeln und Riemen notdürftig an. Außerdem gaben sie die ihnen zugeteilten Boxershorts an ihre männlichen Kameraden weiter, weil sie als Unterwäsche während der Menstruation für Frauen völlig ungeeignet waren.
![Page 8 of comic: Mines Page 8 of comic: Mines](/sites/default/files/styles/3d2_small/public/2023-12/8b.jpg.jpg?itok=ITgT_5mp)
Oksana Potapova
Feminismusforscherin und Frauenrechtsaktivistin
In feministischer Kriegsliteratur sowie in internationalen Friedens- und humanitären Diskursen dominieren Bilder von Frauen als Opfer, Frauen als Pflegekräfte, Frauen als Friedensstifterinnen. Frauen, die als Soldatinnen, Sanitäterinnen oder Entscheidungsträgerinnen in politischen und Sicherheitsfragen aktiv an Militäraktionen beteiligt sind, kommen dagegen nur selten vor. In feministischen Diskursen gilt die Beteiligung an Militäroperationen häufig als Zeichen einer Militarisierung, und damit als etwas, das Frauen besser ablehnen, kritisieren und bekämpfen sollten. Auch wenn es viele triftige Gründe gibt, Militarismus kritisch zu betrachten, sind nicht alle Formen des Sicherheitsengagements als Zeichen einer zunehmenden Militarisierung zu werten. In bestimmten Zusammenhängen, wenn zum Beispiel eine Gesellschaft mit einem Verteidigungskrieg konfrontiert ist, tragen auch lokale Gemeinschaften einschließlich Frauen eine Verantwortung, den Schutz vor bewaffneten Akteuren und langfristigen Kriegsfolgen zu gewährleisten. Das Erlernen von Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz vor Minen oder von Selbstverteidigungstechniken und die Beteiligung an Armeeeinsätzen zur Verteidigung der nationalen Souveränität – das und noch viel mehr gehört zur Rolle von Frauen im Krieg. Und es bedeutet nicht zwangsläufig, dass sich Frauen einer militaristischen, patriarchalen Ordnung gebeugt haben. Ganz im Gegenteil, es kann auch ein Zeichen für Handlungsfähigkeit, Führungskraft und Emanzipation im Kontext nationaler und gesellschaftlicher Befreiung sein.
![Page 9 of comic: Are Ukrainians in this way, like pets who can't decide for themselves? Page 9 of comic: Are Ukrainians in this way, like pets who can't decide for themselves?](/sites/default/files/styles/3d2_small/public/2023-12/9b.jpg.jpg?itok=311bY29F)
Oksana Semenik
Kunsthistorikerin, Forscherin und Autorin des Twitter- (jetzt X) Accounts „Ukrainian Art History“
Zuerst dachte ich, das sei ein Bild von mir selbst. Doch dann sah ich den Laptop und die Konservendosen, und mir wurde klar, dass ich im Keller ganz andere Erfahrungen gemacht hatte. Während der Besatzung gab es in Butscha keinen Strom, und wir lebten mit Dutzenden anderer Menschen im Keller eines Kindergartens. Allerdings hatte ich meine Katze bei mir, die auch zu einem Opfer des bewaffneten Angriffs durch Russland wurde. Ich empfinde mehr Mitleid mit ihr als mit mir selbst. Da es noch andere Tiere im Keller gab, musste sie die meiste Zeit in einer Haustiertrage verbringen, die nicht viel besser als ein Käfig war. Sie rettete uns das Leben, als sie in die von ihr so gehasste Trage sprang und uns damit ein Zeichen gab, dass wir unsere Wohnung verlassen mussten. Wenige Minuten später fuhren russische Panzer in unsere Straße. Ein anderes Mal spürte sie ein herannahendes Flugzeug, das später eine Bombe auf ein Militärkrankenhaus in Irpin warf. Glücklicherweise verfehlte der russische Pilot sein Ziel und die Bombe explodierte nicht. Meine Vatrushka antizipierte auch die Öffnung der so genannten grünen Korridore. Sie putzte sich ausgiebig die Schnauze und machte sich ausgehfertig. Als wir Butscha zu Fuß in Richtung Kiew verließen, trugen wir sie die Hälfte des Wegs. Sie hatte solche Angst, dass sie sich über ihr eigenes Fell erbrach. Und ich dachte, warum muss diese Katze einen Krieg erleiden? Wieviel musste diese kleine schwarze Kreatur ertragen, die wir im Sommer 2021 von der Straße aufgelesen hatten? Sie ist unser Maskottchen. Wir konnten uns retten, wir hatten Glück. Doch viele Menschen aus Butscha hatten das nicht. Einige, vor allem all diejenigen, die der Propaganda glauben, behaupten, dass zwei Imperien gegeneinander kämpfen – Russland und Amerika. Meine Katze hat nur russische Besatzer und ukrainische Soldaten zu Gesicht bekommen.
![Page 10 of comic: Do you feel privileged as a man to be target of Russian Missile? Page 10 of comic: Do you feel privileged as a man to be target of Russian Missile?](/sites/default/files/styles/3d2_small/public/2023-12/10b.jpg.jpg?itok=svaLJUfG)
Yana Salakhova
Akteurin im Theater der Unterdrückten und Expertin für Geschlechtergerechtigkeit
Dem Krieg ist dein Geschlecht egal. Die Wahrscheinlichkeit, von einer Rakete oder einer Drohne getötet zu werden, ist für alle Menschen in der Ukraine recht hoch. Es gibt hier keine sicheren Orte, nirgendwo. Wenn Menschen über Privilegien sprechen, dann sprechen sie häufig von Macht und wie sie sich verteilt. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist Sicherheit zu einem wichtigen Privileg geworden. Und da es nirgendwo in der Ukraine Sicherheit gibt, sind alle Menschen gleich, weil sich alle in einer gefährlichen Lage befinden. Die Menschen unterscheiden sich nur durch die Strategie, mit der sie dieser Gefahr begegnen. Die einen bezeichnen sich selbst als Fatalisten, weil sie sich bereits damit abgefunden haben, eines Tages vom russischen Roulette ausgewählt zu werden. Die anderen bemühen sich nach besten Kräften darum, einer solchen Situation zu entgehen, indem sie beispielsweise auf einem Klappbett im U-Bahnhof schlafen – denn bei einem nächtlichen Raketenangriff würden sie es nicht mehr dorthin schaffen.
Fühlst du dich privilegiert, weil du in Sicherheit lebst? Welche Macht gibt dir das?
![Page 11 of comic: It took a war in this country for men to start complaining that women haven't fought enough for gender equality Page 11 of comic: It took a war in this country for men to start complaining that women haven't fought enough for gender equality](/sites/default/files/styles/3d2_small/public/2023-12/11b.jpg.jpg?itok=FnCplGuj)
Yana Salakhova Das Gesetz, das Männern in Zeiten des Kriegsrechts verbietet, die Ukraine zu verlassen, wurde am 21. Oktober 1993 angenommen. Kurze Zeit später, am 27. Januar 1995, verabschiedete das Ministerkabinett die Resolution Nr. 57 mit Regelungen zur Überschreitung der Staatsgrenze durch ukrainische Bürger*innen. Die meisten Ukrainer*innen wussten nichts von diesen Gesetzen, bevor der ukrainische Präsident mit dem Dekret Nr. 64/2022 am 24. Februar 2022 das Kriegsrecht im Land verhängte. Seitdem ist es Männern im Alter zwischen 18 und 60 Jahren nicht erlaubt, ins Ausland zu reisen – es sei denn, sie begleiten einen Erwachsenen oder ein Kind mit einer Behinderung, eine ständig pflegebedürftige Person oder ein Kind. Männer in dieser Altersgruppe dürfen darüber hinaus ins Ausland reisen, wenn sie
Paradoxerweise sind dies möglicherweise die einzigen Rechtsvorschriften, welche die Bedeutung der mehrheitlich von Frauen ausgeführten unsichtbaren Arbeit unterstreichen – die Pflege und Betreuung von Kindern, Personen mit Behinderungen und älteren Menschen. Dies ist ein weiteres befremdliches Beispiel dafür, wie Krieg die Gleichstellung der Geschlechter stärkt und den Wert der Pflege schutzbedürftiger Gruppen bekräftigt. Fallen euch Gesetze in eurem Land ein, die in Friedenszeiten keine Bedeutung haben, während sie in Kriegszeiten euer eigenes Geschlecht in ein neues Licht rücken? |
![Page 12 of comic: Bruno Latour Page 12 of comic: Bruno Latour](/sites/default/files/styles/3d2_small/public/2023-12/12b.jpg.jpg?itok=y8C1N_8e)
Alevtina Kakhidze
Künstlerin, Designerin, Pädagogin und Kuratorin
Im März 2002 bin ich oft in den Keller gegangen und habe mich zwischen Rüben und Kohl vor den Kämpfen zwischen der russischen und der ukrainischen Armee versteckt. Und auch als in der Region um Kiew die Befreiungskämpfe gegen die russischen Truppen tobten, habe ich dort oft Schutz gesucht, wenn uns Sirenen vor Luftangriffen durch russische Raketen warnten. Ich erinnere mich an einen Tag im Keller, als ich mich in Gedanken mit Bruno Latour unterhielt – einem Philosophen, der mir wegen seiner Erläuterungen zum Menschlichen und Nicht-Menschlichen sehr viel bedeutet. Er hatte sowohl die Nachrichten über die großangelegte Invasion Russlands in der Ukraine als auch einen neuen Bericht zum Klimawandel gelesen und konnte sich nicht entscheiden, welche dieser Tragödien ihm die größten Sorgen bereiten sollte.[1] Diese Unentschlossenheit habe ich in mehreren Zeichnungen verarbeitet, und dies ist eine von ihnen. Darin habe ich ihm die absurde Möglichkeit gegeben, sich mit Hilfe einer Lotterie zu entscheiden, bei der es nur ein Ergebnis gibt: Alle Kriege sind immer Kriege gegen Frauen, Männer, Katzen, das gesamte Leben auf dem Planeten und werden auf keinen Fall die Klimakrise hinauszögern. In seinem letzten Text[2] schrieb Latour mehr über den Krieg gegen die Ukraine und über Umweltkriege und sortierte die beiden Probleme genauer ein (als Problem Nummer eins und Problem Nummer zwei). Dabei ging er auch näher auf die Einzigartigkeit des Kriegs gegen die Ukraine ein, wo sich seiner Meinung nach Waffen und Energieressourcen als Teil einer vielschichtigen Problematik der heutigen Zeit entpuppt hätten.[3] Den Gedanken, ihn persönlich zu treffen, fand ich aufregend, aber auch etwas unangenehm. Freund*innen schickten mir Fotos von seinen Veranstaltungen und Vorträgen in Europa und sagten: „Latour ist hier, dürfen wir ihm deine Zeichnungen zeigen?“ Vor kurzem ist er gestorben. Nun werde ich ihn nie mehr treffen und mit dieser Koryphäe sprechen können, die ich so verehrt und dann in meinen eigenen Werken hinterfragt habe.
[1] Siehe Bruno Latours Artikel „Quelle entre-deux-guerres?“, verfügbar unter: http://www.radio-univers.com/quelles-entre-deux-guerres-n1034/ (Zugriff im August 2022).
[2] Siehe http://www.bruno-latour.fr/sites/default/files/downloads/179-CONTINENT-SORBONNE-GB-pdf.pdf
![Page 13 of comic: You know the worst empire is the American Empire Page 13 of comic: You know the worst empire is the American Empire](/sites/default/files/styles/3d2_small/public/2023-12/13b.jpg.jpg?itok=UdDv0vwf)
Oksana Potapova
Feminismusforscherin und Frauenrechtsaktivistin
Zu Beginn von Russlands groß angelegter Invasion in der Ukraine hörten man bei vielen linken und feministischen Aktivist*innen dieses gängige Argument gegen eine Bewaffnung der Ukraine: „Ihr werdet nur vom amerikanischen Imperium ausgenutzt, das seinen Einflussbereich in Europa mit Hilfe der NATO ausweiten will.“ Dieses Argument war beispielsweise auch in einem Manifest von Feminists Against War zu lesen.[1] Der bekannte Linksintellektuelle Noam Chomsky behauptete zudem, Russland würde menschlicher kämpfen als die USA.[2] Diese Argumente sollten Ukrainer*innen entmutigen, bewaffnete Unterstützung zu suchen und sich Russland in diesem Krieg zu widersetzen. Erstens impliziert allein schon die Unterscheidung zwischen verschiedenen Graden der „Unmenschlichkeit“ von Imperien, dass einige Leben wertvoller sind und einige Tote weniger betrauert werden müssen als andere. Zweitens vermittelt dieses Argument und die Art und Weise, in der es zum Ausdruck gebracht wurde, eine imperialistische Einstellung westlicher Intellektueller gegenüber Ukrainer*innen. Es setzt voraus, dass es in der heutigen Welt nur ein „wahres“ Imperium gibt (das amerikanische Imperium) und dass alle anderen demnach anti-imperiale Kräfte sind. Absurderweise konzentriert sich dieses Argument auf die USA und ist daher von Grund auf imperial, weil es die Möglichkeit einer gleichzeitigen Existenz anderer Imperien ausschließt, die ihren Einfluss in anderen Weltregionen geltend machen. Wir Menschen in der Ukraine haben deutlich gemacht, dass wir sehr wohl ein anderes Imperium in unmittelbarer Nähe haben und dessen Politik und Einfluss auf unser Leben besser beurteilen können. Dieses Argument impliziert zudem, dass die Menschen in der Ukraine – als kolonisierte, überfallene, schutzbedürftige Untertanen in der globalen Peripherie – nicht selbst erfassen können, welche geopolitischen, militärischen und historischen Entwicklungen sich in ihrer Region vollziehen. Den Ukrainer*innen wird der Status von Personen zuerkannt, die zwar „Erfahrung“ haben, aber nicht in der Lage sind, Wissen und Analysen zu produzieren. Dies ist ein klassischer postkolonialer Zustand, der Subalternen durch die globale „Metropole“ zugewiesen wird und den Gayatri Spivak so treffend in ihrem berühmten Essay „Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation“ analysiert hat. Darin stellt sie die These auf, dass alle Versuche von Subalternen, für sich selbst zu sprechen, zwangsläufig durch den Blick der Mächtigen gefärbt sind. Eine mögliche Strategie, sich aus dieser epistemischen Gewalt zu befreien, könnte auch die Schaffung von Räumen sein, in denen Menschen aus dem globalen Süden und Randgebieten in einen gemeinsamen Dialog treten können – ohne Vermittlung durch westliche Akteure.
[1] Siehe Feminists Against War (2022): „Feminist Resistance Against War – A Manifesto“, Spectre, verfügbar unter: https://spectrejournal.com/feminist-resistance-against-war/.
[2] Siehe Vock, Ido (2023): „Noam Chomsky: Russia is fighting more humanely than the US did in Iraq“, The New Statesman, verfügbar unter: https://www.newstatesman.com/the-weekend-interview/2023/04/noam-chomsky-interview-ukraine-free-actor-united-states-determines.
Deutsche Übersetzung zu den Bildern im Comic herunterladen.
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Aus dem Englischen übersetzt von Kathrin Hadeler.
Dieser Comic ist Bestandteil des Dossiers Feminist Voices Connected.